NEOGRINO – Der Glaube an ein Traumreich heute & Rückbezüge zur Kleckener Lebensgemeinschaft: „Ugrino – die Utopie“

Kultfigur: Der Schriftsteller und Sekten-Gründer Hans Henny Jahnn während seiner Zeit in Klecken (nach Heinrich Stegemann, 1930)

Hans Henny Jahnn, am 17. Dezember 1894 in Hamburg geboren, gründet bereits zu Schulzeiten eine Glaubensgemeinschaft. Doch diese ist zum Scheitern verurteilt, zu eng ist der neue Glaube ans Christentum angelehnt. So versucht Jahnn etwa gegenüber seinen Eltern, Lehrern und Mitschülern, immer die Wahrheit zu sagen und niemals zu lügen. Viele Anhänger gewinnt er damit nicht. Stattdessen droht sein Vater mit einer Zwangseinweisung in die Irrenanstalt – Jahnn bricht das Experiment ab. Durch den Fehlschlag erkennt er, dass seine radikale Bibelauslegung potenzielle Anhänger verschreckt. Er sucht fortan in der Literatur Wege zur Erlösung. 1920 bekam er den Kleist-Preis und wird für seine extremen Gefühlslagen und Handlungen in seinem Werken bekannt. Er wird Präsident des Kartells „Hamburger Künstlerverband“ und gründet die freie Akademie der Künste in Hamburg.

Um sinnsuchende Altersgenossen anzusprechen, entwickelt er ab 1915 – Jahnn ist damals 21 Jahre alt – eine freigeistige Glaubensgemeinschaft mit dem Namen Ugrino. Er wendet sich damit gegen das Weltbild des wilhelminischen Kaiserreichs und gegen den Militarismus. Seinen Kriegsdienst entgeht er mit einer kurzzeitigen Auswanderung nach Norwegen.

Die Weltanschauung der Sekte wird in dem Romanfragment Ugrino und Ingrabanien ausführlich beschrieben. Hierin schildert er traumhaft eine Figur, die ihr Gedächtnis verloren hat. Dieser von mir illustrierte Alptraum dreht sich in weiten Zügen um einen geplanten Sakralbau, der der Sekte als Kultbau dienen sollte. Er kauft zum Bau dieser Grabkapelle Grundstücke am Flidderberg in Handeloh, scheitert jedoch sowohl an der Bauerschläue der Landeigentümer, als auch an dem utopischen Ausmaß des Entwurfs. Wie viel mehr Sinn hätte es gemacht, wenn man das Bedürfnis nach Pathos und einem höheren Ziel im Leben in dem geplanten Kultbau gesucht hätte, anstatt in den diabolischen Versuchungen der Nationalsozialisten und deren Vorläufern, die stattdessen in der Gegend ihre teilweise revisionistischen Kriegerdenkmäler aufstellten! Ein zweiter Weltkrieg wäre vielleicht ein wenig unwahrscheinlicher geworden… Nicht nur angesichts neuer traumatischer Kriege in Europa erscheint Jahnns Utopie heute so modern, sondern auch durch seine sehr zeitgenössischen Glaubenssätze wie z.B. den Tierschutz. Der Grundgedanke von Ugrino besteht darin, in der Auseinandersetzung mit Kunst, Architektur und Musik sich selbst transzendent wahrzunehmen. Jahnns Kunstreligion feiert aber auch den Körper, das sinnliche Erleben und die sexuelle Freiheit. Jahnn will mit Ugrino eine liberale Gesellschaft erschaffen, die Außenseiter vorurteilslos begrüßt. Seine Motivation dafür ist verständlich: Aufgrund der lebenslangen homosexuellen Liebe zu seinem Schulkameraden Gottfried Harms – 1913 heiraten die beiden inoffiziell – wird Jahnn früh aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen.

Die ersten Mitglieder von Ugrino rekrutieren sich aus dem Freundeskreis von Jahnn und Harms. Hauptsächlich besteht die Gruppe aus jungen Männern wie dem Bildhauer Franz Buse oder dem Mäzen Lorenz Jürgensen. Zusammen verfolgen sie unterschiedliche Ziele: Jahnn will den Orgelbau reformieren, gleichzeitig gründet die Sekte einen Musikverlag, um vergessene Komponisten wie Dietrich Buxtehude zu kanonisieren. In der Öffentlichkeit gibt sich die Glaubensgemeinschaft unterdessen so freizügig und wild wie möglich – um die Scheinmoral ihrer Zeit zu entlarven.

Quelle:

Johannes Spengler, https://tell-review.de/hans-henny-jahnn-oder-wie-man-eine-sekte-gruendet/

Schülerarbeit von Joshua Martens und Elisabetha Nell

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